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Lenin in ZürichDer russische Revolutionär und die Spiesser
Aktivitäten von Huter-Freunden seit 1993 bis heute
Quelle: Lenin in Zürich: Der russische Revolutionär und die Spiesser - NZZ Zürich
https://www.nzz.ch/zuerich/wo-lenin-in-zuerich-spuren-hinterlassen-hat-lenin-und-die-friedlichen-spiesser-ld.146969?mktcid=nled&mktcval=107_2017-2-22[NB W. Timm / Helioda1/ CHZA1 / Carl-Huter-Zentral-Archiv: DER MENSCH LENIN ist nach CARL HUTERs ORIGINAL-MENSCHENKENNTNIS & KALLISOPHIE MEPHISTO-NATURELL!]
Raus aus dem «kleinbürgerlichen demokratischen Käfig»
Seit September 1914 hatten Lenin und seine Frau Nadeschda Krupskaja in Bern gelebt, dann hatten sie genug und siedelten im Februar 1916 nach Zürich über. In Bern seien sie in einem «kleinbürgerlichen demokratischen Käfig gefangen» gesessen, schrieb Krupskaja später. In Zürich hingegen erhofften sie sich Kontakte zu der «revolutionär gesinnten Jugend aus verschiedenen Ländern». Schon kurz nach der Ankunft in Zürich schrieb Lenin an seine Mutter: «Der See hier gefällt uns sehr, und die Bibliotheken sind besser als in Bern, so dass wir wohl noch länger bleiben werden, als wir vorhatten.» Lenin arbeitete in der Zentralstelle für soziale Literatur, dem heutigen Sozialarchiv, und in der Zentralbibliothek, die sich damals noch in der Wasserkirche befand. Der ZB-Ausweis ist ebenso noch vorhanden wie der Schein, mit dem sich Fritz Platten gegenüber dem Sozialarchiv für den Benutzer «Wladimir Uljanoff» verbürgt. Lenin schrieb in Zürich an seinem Buch «Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus». Daneben hielt er, nicht zuletzt, um seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, politische Vorträge, unter anderem im Volkshaus oder im Gewerkschaftshaus Eintracht, dem heutigen Neumarkt-Theater.
Die Revierpolizei weiss nichts Nachteiliges zu berichten
Das offizielle Gesuch für die Aufenthaltsbewilligung stellt Lenin am 18. April 1916. Stadtrat Otto Lang und Fritz Platten übernehmen die Bürgschaft in der Höhe von 3000 Franken. Ende des Jahres wird die Bewilligung verlängert, nachdem der Bericht der Revierpolizei nichts Nachteiliges zu vermelden wusste. Uljanow scheine «seinen Verpflichtungen regelmässig nachzukommen», hiess es darin.
Lenin selber hatte einen «Fragebogen für Deserteure und Refraktäre» auszufüllen, der sich ebenfalls erhalten hat. Darin schreibt er, dass er in Zürich literarisch und journalistisch arbeite, kein Vermögen besitze und weder Deserteur noch Refraktär (Dienstverweigerer) sei, «sondern politischer Emigrant seit der Revolution von 1905».
Im Hinterhof ihres Hauses riecht es fürchterlich
Lenin und Krupskaja wohnten an der Spiegelgasse 14 beim Schuhmacher Titus Kammerer, der weitere Zimmer untervermietete. Die Wohnverhältnisse sind aus heutiger Sicht beinahe unvorstellbar: Kammerer bewohnte mit seiner Frau und den drei Kindern zwei Zimmer, eines war an Lenin und Krupskaja vermietet, eines an die Frau eines deutschen Soldaten mit ihren Kindern, eines an einen Italiener und eines schliesslich «an österreichische Schauspieler». Nadeschda Krupskaja schrieb später: «Zwar war unser Haus hell, aber seine Fenster gingen auf den Hof hinaus, in dem es fürchterlich roch, weil sich dort eine Wurstfabrik befand. Nur spät nachts konnten wir die Fenster öffnen.»
Zwar war unser Haus hell, aber seine Fenster gingen auf den Hof hinaus, in dem es fürchterlich roch, weil sich dort eine Wurstfabrik befand.
Bergwanderungen und ihre Wirkung auf den Menschen
Lenin verschlang in den Schweizer Bibliotheken alles, was er an politischer und philosophischer Literatur in die Finger bekam. Daneben aber interessierte er sich für alle möglichen Themen. Das kann man nachvollziehen dank einer Liste der Bücher und Zeitschriften, die Lenin in der Landesbibliothek Bern (heute Nationalbibliothek) ausgeliehen hat. Die Liste reicht von Reiseführern über Werke zur «Fleischversorgung des Deutschen Reiches» oder zu «Heerwesen und Kriegsführung» bis zu einer Abhandlung zum Thema «Höhenklima und Bergwanderungen in ihrer Wirkung auf den Menschen».
Neben lesen und schreiben tat Lenin, was ein Revolutionär offenbar so tut: «Er konspirierte nach allen Seiten», schrieb der Schweizer Arbeiterführer Robert Grimm.
Lenin nahm Verbindungen mit Revolutionären in Russland auf, korrespondierte mit Emigranten auf der ganzen Welt, «erteilte Weisungen, gab Ratschläge, arbeitete Thesen und Resolutionen aus». Ausserdem traf er sich gelegentlich mit ein paar jungen Sympathisanten zu Diskussionsabenden, die bald den Über- oder Tarnnamen «Kegelclub» bekamen.
Mit zwei Tafeln Schokolade auf den Zürichberg
Wenn die Bibliotheken geschlossen waren, unternahmen Lenin und seine Frau Spaziergänge oder Ausflüge in die nähere Umgebung. Man habe gelegentlich «zwei kleine Tafeln Nussschokolade zu 15 Rappen das Stück» gekauft, schrieb Krupskaja, sei auf den Zürichberg gezogen, wo man an einem Lieblingsplatz «im Grase liegend, ungestört lesen» konnte.
Lenin stellt in Zürich «geistigen Sprengstoff» her
Kurz vor seiner Abfahrt im April 1917 verlas Lenin einen Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter, in dem er seine Positionen erläutert und sich von den linken «Sozialpatrioten und Opportunisten» abgrenzt. Nach der erfolgreichen Durchquerung Deutschlands im Zug erteilte er den Auftrag zum Druck des Textes.
«Der Brief Lenins löste kein besonderes Echo aus», schreibt Willi Gautschi in seinem Standardwerk «Lenin als Emigrant in der Schweiz» trocken. Er sei in der offiziellen sozialdemokratischen Presse überhaupt nicht abgedruckt worden, in einer Gewerkschaftszeitung aus der Romandie spottete der Arbeiterführer Achille Grospierre hingegen über das «document pastoral», dessen Verfasser ein Phrasendrescher sei, der während seines Aufenthalts in der Schweiz vollkommen unbekannt geblieben sei.
Lenin hatte nach Gautschi keinen Einfluss auf die Schweizer Sozialdemokratie oder auf die Forderungen des Generalstreiks von 1918, wie das später in einigen Artikeln behauptet wurde.
Allerdings seien seine Schweizer Jahre für seine eigenen Theorien wichtig gewesen. «Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der geistige Sprengstoff, der in der Oktoberrevolution gezündet wurde, von Lenin in der Schweiz hergestellt und durch seine Anhänger von hier aus vertrieben worden ist», schreibt Gautschi.
Spiesser und Opportunisten im Zürcher Stadtrat
Von den Schweizer Sozialdemokraten hielt Lenin nicht allzu viel, besonders nicht von jenen, die ein Regierungsamt innehatten. Über den Zürcher Stadtrat beispielsweise schrieb er wenig schmeichelhaft: «Der Magistrat von Zürich besteht aus neun Mitgliedern, von ihnen sind vier Sozialdemokraten: Erismann, Pflüger, Vogelsanger und Klöti . . . Erismann & Co. sind keineswegs gewöhnliche Überläufer in das Lager des Feindes, sie sind einfach friedliche Spiesser, Opportunisten, die sich an den parlamentarischen Kleinkram gewöhnt haben und mit konstitutionell-demokratischen Illusionen belastet sind.»
Eine Gedenktafel mindert den Wert des Hauses
Bei den Wahlen 1928 holte sich die SP einen fünften Sitz im Stadtrat und damit die Mehrheit. Gleichzeitig stellte sie nun mit Emil Klöti auch den Stadtpräsidenten. Das «Rote Zürich» war damit Tatsache geworden.
Nach dem linken Wahlerfolg vergingen nur gut drei Monate, bis am Haus Spiegelgasse 14 eine Gedenktafel für Lenin montiert wurde – als hätte man nur auf die neuen Mehrheiten gewartet. Nun entbrannte allerdings ein heftiger Streit über diese Tafel in den Zeitungen, der schliesslich den neuen Stadtpräsidenten zu einer Stellungnahme in der NZZ veranlasste. Emil Klöti machte darauf aufmerksam, dass die Tafel schon zwei Jahre früher vom Gemeinderat gewünscht worden sei, dass sich die Sache aber wegen Nachforschungen im Stadtarchiv verzögert habe. Schliesslich habe der Stadtrat dem Bauvorstand die Kompetenz erteilt, die Tafel ans Haus zu hängen. Diese sei ja für Freunde und Gegner der russischen Revolution interessant und Lenin unbestritten eine «weltgeschichtliche Gestalt».
Ganz erledigt war die Sache damit aber noch nicht. Nun klagte nämlich der Eigentümer, dass sein Haus durch die Tafel eine Wertminderung erfahre. Kurz und trocken ist dazu in der NZZ zu lesen, der Stadtrat habe Verhandlungen «über eine angemessene Entschädigung für die Belassung der Tafel eingeleitet, die gegenwärtig noch in der Schwebe sind». Wie die Sache ausging, wurde nicht mehr vermeldet.
Der Schuhmacher Titus Kammerer bleibt standhaft
Vom Zürcher Schuhmachermeister Titus Kammerer hätte ausserhalb des Kreises seiner Kundschaft kaum jemand Kenntnis genommen – wäre nicht Lenin ein gutes Jahr lang sein Untermieter gewesen.
So aber reichte es sogar für einen längeren Nachruf in der NZZ am 7. Juni 1951, worin unter anderem zu lesen war, dass Kammerer auch nach Lenins Auszug stets nur mit Achtung von seinem früheren Mieter gesprochen habe. Auch habe er alle «Neuigkeitsjäger und Raritätensammler» immer konsequent abgewiesen und sich ihrem Wunsch nach einem von Lenin benützten Einrichtungsstück stets verweigert.
Selbst als die Sowjetregierung die ganze Wohnungseinrichtung für ein Lenin-Museum habe kaufen wollen, sei Kammerer standhaft geblieben.
Lenin und seine Frau Nadeschda Krupskaja hätten in bescheidenen Verhältnissen gelebt, seien aber, wie Kammerer einmal sagte, «ihren finanziellen Verpflichtungen immer pünktlich nachgekommen». In der Einschätzung von Willi Gautschi war Kammerer «der demokratisch-kritisch eingestellte Typ des ruhigen, fleissigen Handwerkers, der den Krieg verabscheute».
Vom Zürcher Schuhmachermeister Titus Kammerer hätte kaum jemand Kenntnis genommen – wäre nicht Lenin ein gutes Jahr lang sein Untermieter gewesen.
Ein Ausleihschein ist weg – und kommt wieder zurück
Willi Gautschi berichtet davon, dass sich ursprünglich auch eine Steuer-Selbsttaxation Uljanows in den Lenin-Akten des Stadtarchivs befunden habe. «Dieses Dokument wird seit 1950 vermisst.» Über die näheren Umstände ist heute im Stadtarchiv nichts mehr zu erfahren.
Übrigens war in den vierziger Jahren auch aus dem Sozialarchiv ein Ausleihschein Lenins verschwunden. Man konnte diesen aber schliesslich in einem Antiquariat zurückkaufen. Heute ist er sicher im Tresor verstaut.
Lenin im Gedränge der verschiedenen Revolutionäre
Neben der Gedenktafel an der Spiegelgasse gibt es eine weitere im Blauen Saal des Volkshauses, wo Lenin im Januar 1917 einen Vortrag über die Revolution von 1905 gehalten hat. Im April 1970 wurde sie in einer kleinen Feier enthüllt – ohne irgendwelche Nebengeräusche.
Der Berichterstatter der NZZ erinnerte daran, welche Polemik die erste Tafel im Jahr 1928 noch ausgelöst hatte. Vermutlich sei Zürich in den letzten vierzig Jahren toleranter geworden, heisst es im Bericht.
Vielleicht aber sei «Lenin im Gedränge der Revolutionäre verschiedenster Prägung und Färbung» auch etwas «unaktueller geworden».
Die meisten Zitate stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Werk «Lenin als Emigrant in der Schweiz» von Willi Gautschi, erschienen 1973. Die Aussage Lenins über den Stadtrat ist der Klöti-Biografie von Paul Schmid-Ammann von 1965 entnommen.
Das Zürcher Zunfthaus am NeumarktWo Lenin den Umsturz plante
Bei der Zunft zur Schuhmachern ging es hoch zu und her, im 18. Jahrhundert jedenfalls. Da wusste ein Zunftschreiber von «Ungeziemtheiten, Scheltungen und Schlaghändeln» zu berichten. Früher soll es vorgekommen sein, dass Messer gezückt wurden und Teller durch den Saal flogen. Die Vorsteherschaft war gezwungen, Sanktionen zu verfügen gegen Zünfter, die sich nach übermässigem Trinken schlecht benahmen.
Schauplatz der zünftigen Saalschlachten war ein Haus, das damals wie heute zu den bedeutendsten Bauten der Stadt gehört: das Zunfthaus am Neumarkt. Seine Vergangenheit erzählt das soeben erschienene Buch «Zunftherren, Wiedertäufer, Revoluzzer». Es verbindet informative Texte mit zum Teil erstmals publizierten Bildern zu einem Gang durch acht Jahrhunderte Zürcher Geschichte.
Ein Hauch Rokoko
Es ist ein ganz besonderer Gang durch Zürichs Vergangenheit, der sich da eröffnet. Denn im Zunfthaus am Neumarkt bündelt sich die Geschichte der Stadt wie in einem Hohlspiegel:
Im März 1743 weihten die Schuhmacher ihr neues Haus ein. Entworfen worden war es von David Morf, dem bedeutendsten Zürcher Architekten der Barockzeit. Mit dem Zunfthaus zur Meisen und dem Haus zum Rech brachte er einen Hauch luftigen Rokokos in die behäbige Stadt.
Morfs Paläste verbinden strenge Zürcher Tradition auf elegante Weise mit Elementen der französischen und österreichischen Baukunst und prägen das Stadtbild noch heute. Der Neumarkt war Morfs erster grosser Bau, und der Baumeister erledigte seine Aufgabe mit Bravour.
Das Haus «Uff dem Bach», das die Zunft erworben hatte, baute er um zu einem repräsentativen Zunfthaus, das den Besitzern alle Ehre machte. Vor allem verfügte es über einen Saal, der es mit den kurz zuvor neu entstandenen Sälen der Zunfthäuser zu Zimmerleuten und zur Saffran aufnehmen konnte.
Die Schuhmacher hatten also einen würdigen Ort zum Feiern. Aber nicht lange. Mit dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft ging 1798 die Macht der Zünfte zu Ende. Die Zunft zur Schuhmachern musste ihren Besitz vor den einmarschierenden Franzosen in Sicherheit bringen und die Liegenschaft verkaufen.
Der neue Besitzer, der Krämer Johannes Gessner, richtete im Erdgeschoss ein Verkaufslokal ein. Um Mittel für den Unterhalt der Liegenschaft zu erwirtschaften, suchte er Mieter. Er fand sie in der damals erst seit kurzem bestehenden Töchterschule, die in den oberen Geschossen Schulzimmer einrichtete.
Über mehrere Jahrzehnte lernten Zürichs höhere Töchter dort «mit Verstand lesen, leserlich und ordentlich schreiben und so viel rechnen, als ein Frauenzimmer davon verstehen muss».
Als die Schuhmacher das Haus am Neumarkt übernahmen, hatte es schon eine lange Geschichte hinter sich.
Im 13. Jahrhundert waren die ersten Fundamente des späteren Bilgeriturms entstanden. In den Fokus historischer Ereignisse geriet das Haus «Uff dem Bach» in der Reformation.
Der damalige Bewohner, Konrad Grebel, war zunächst Zwinglis Weggefährte. Im Streit um die Taufe entzweiten sich die beiden allerdings, und zwar gründlich. Grebel wandte sich den Täufern zu. Auch in seinem Haus traf sich die radikale Gruppe um den später zum Tod verurteilten Felix Manz, um gemeinsam zu beten und Pläne zu schmieden.
Grebel wurde schliesslich verhaftet und eingekerkert. In einer spektakulären Aktion gelang ihm die Flucht ins Bündnerland, wo er an der Pest starb. Noch heute wird er weltweit als einer der Urväter des Täufertums geehrt.
Vom Hort der Täuferbewegung in der Reformation wurde das Haus am Neumarkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder zu einem Nest des Widerstands.
1888 kaufte der deutsche Arbeiterbildungsverein Eintracht die Liegenschaft. Was zunächst nicht mehr als ein geselliger Treffpunkt von Handwerkern aus Deutschland war, entwickelte sich bald zu einem Zentrum der sozialistischen Bildungsarbeit.
In der «Eintracht» traten prominente Sozialisten auf und sprachen zu ihren Anhängern.
Im Saal legte Leo Trotzki 1914 den Grundstein für das revolutionäre Manifest von Zimmerwald.
Ab 1916 arbeitete Lenin im Lesesaal des Gewerkschaftshauses und plante die russische Revolution.
Tag für Tag kam er von seinem Logis an der Spiegelgasse an den Neumarkt, um zu lesen, zu schreiben und die Weltereignisse zu beobachten.
Von dort fuhr er im April 1917 nach Russland, um selber ins Geschehen einzugreifen.
Wenige Jahre später, 1921, wurde am gleichen Ort die Kommunistische Partei der Schweiz gegründet.
Eklats nur noch auf der Bühne
Anfang der dreissiger Jahre schliesslich kaufte die Stadt Zürich den Gebäudekomplex – um ihn abzureissen. Er sollte einer tiefgreifenden Sanierung der Altstadt Platz machen. Anstelle enger Gassen und verwinkelter Häuser waren grosszügige Strassen und moderne Fassaden geplant. Ein Vorhaben, das glücklicherweise nie verwirklicht wurde.
Eine rechte Verwendung allerdings hatte man nicht für das in die Jahre gekommene Gebäude. Und auch das wurde zum Glücksfall. Denn in den fünfziger Jahren etablierte Stadtpräsident Emil Landolt den Neumarkt-Saal als Podium für Konzerte, Theater, Kabarett und Lesungen.
Damit wurde eine Tradition weitergeführt, die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, als das Cabaret Cornichon im Neumarkt seine letzten Programme spielte.
Zur gleichen Zeit wurde das Haus zu einem weit über Zürich hinaus wirkenden Zentrum der Schwulenbewegung um die Interessengemeinschaft «Der Kreis».
Die extravaganten Maskenbälle, die dort stattfanden, hatten Kultstatus und zogen Homosexuelle aus Europa und Übersee an.
Im Januar 1966 schliesslich wurde in den historischen Räumen das Theater am Neumarkt eröffnet. Seither ist der Neumarkt ein Fixpunkt im Zürcher Theaterleben.
Auch die zünftige Tradition wurde wieder aufgenommen. Seit 1956 feiert die Zunft Hottingen ihre festlichen Anlässe im Neumarkt. Von Schlägereien und «Ungeziemtheiten» ist nichts bekannt. Umstürze werden auch keine mehr geplant. Eklats finden, wenn überhaupt, nur auf der Bühne statt. Doch der «Neumarkt» bleibt ein Haus, wie es in Zürich kein zweites gibt.
René Zeller und Martin K. Eckert (Hg.): Zunftherren, Wiedertäufer, Revoluzzer. Das Zunfthaus am Neumarkt als Bühne der Stadtgeschichte. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2015. 168 S., zahlreiche Farbabbildungen. Fr. 48.–.
Zürcher Arbeiterführer Fritz PlattenDer Mann, der Lenin nach Russland schmuggelte
Es ist eine seltsame Reisegruppe, die sich am 9. April 1917 vom Restaurant «Zähringer Hof» auf den Weg zum Zürcher Hauptbahnhof macht:
Bepackt mit Kissen, Decken und reichlich Schokolade im Gepäck, werden die 32 Frauen, Männer und Kinder auf dem Perron von einer Menge wild debattierender Russen empfangen.
Wladimir Illich Lenin, ein spitzbärtiger Mittvierziger mit zerbeultem Hut, abgewetztem Mantel und klobigen Bergschuhen, betritt schweigsam den wartenden Zug, gefolgt von seiner Frau Nadeschda Krupskaja, die froh darüber ist, ihrer düsteren Bleibe an der Spiegelgasse endlich entronnen zu sein – zumal es dort, wie sie später klagt, wegen einer Metzgerei «unerträglich nach verfaulter Wurst roch».
Auf dem Perron liefert sich derweil ein grossgewachsener Schweizer einen derart heftigen Disput mit einem politischen Gegner, dass Bahnbeamte anrücken müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Mit seiner eleganten, bohèmehaften Erscheinung sticht der inoffizielle Reiseleiter unter all den abgewetzten Gestalten besonders hervor. «Wer in Westeuropa», so wird er sieben Jahre später schreiben, «hätte 1917 gedacht, dass diese armen Schlucker Führer und Lenker eines Hundertdreissig-Millionenvolkes werden könnten»?
Fritz Platten, wie der charismatische Zürcher Arbeiterführer und SP-Politiker heisst, ist damals eine Art proletarischer Pin-Up-Held, dessen Konterfei in manchem schäbigen (Arbeiterinnen-) Zimmer hängt. Dass die «armen Schlucker» an jenem Frühlingstag nach Russland aufbrechen dürfen, um dort eine Revolution anzuzetteln, ist auch sein Verdienst. Am 4. April 1917 hat er mit dem deutschen Konsul in Bern die Bedingungen für Lenins Zugfahrt quer durch das Deutsche Reich ausgehandelt. «Ich, Fritz Platten, führe unter voller Verantwortung und jederzeitiger persönlicher Haftbarkeit den Wagen mit politischen Emigranten (. . .), die nach Russland reisen wollen, durch Deutschland», heisst es im Protokoll, und: «Eine Pass- oder Personenkontrolle darf weder beim Eingang noch Ausgang in Deutschland ausgeübt werden.»
Die Mission ist streng geheim, an der Schweizer Grenze steigen die Passagiere in einen (der Legende nach) «plombierten» Zug um. Hinter dem Pakt zwischen dem deutschen Kaiser Wilhelm II. und den russischen Revolutionären steckt ein teuflischer Plan: Lenin soll die soeben eingesetzte demokratische Regierung Russlands stürzen, im Gegenzug beendet er den Krieg mit dem Deutschen Reich, das 1917 am Rande des militärischen Zusammenbruchs steht.
Der Plan geht voll auf, zumindest für Lenin: Unbehelligt von Grenzern – einmal abgesehen von den Schweizer Zöllnern, die der Reisegruppe in Thayngen (SH) die Süssigkeiten wegnehmen –, trifft er mit seinen Getreuen am 17. April 1917 in St. Petersburg ein. Nur wenige Monate später putschen sich die Bolschewiki an die Macht, und sie beenden den Krieg – den die Deutschen am Ende doch verlieren.
«Siegen oder fallen»
Der Coup mit dem Zug macht den roten Fritz zum international bekannten Helden. Doch seine Hingabe für eine totalitäre Heilslehre endet tödlich: 1942 wird er, verraten und verleumdet von seinen Gesinnungsgenossen, in einem mückenverseuchten sowjetischen Sumpfgebiet erschossen.
Plattens tragisches Schicksal verleitet heute dazu, seine tiefe Verstrickung in ein menschenverachtendes System zu verdrängen. Das Schweizer Fernsehen etwa verklärte ihn in einer 2014 ausgestrahlten Reportage als romantischen Revolutionär, der als Vorkämpfer des «Sozialstaats Schweiz» und des Proporzwahlrechts doch eigentlich mehr Ruhm verdient hätte. Doch war er auch jener bolschewistische Bluthund, den das Bürgertum lange in ihm gesehen hat?
Fritz Platten wird 1883 in Tablat (heute: Stadt St. Gallen) in eine Familie mit 13 Kindern geboren; der Vater ist ein eingebürgerter deutscher Arbeiter und Sozialdemokrat, die Mutter Magd aus dem Toggenburg. Die Jugend verbringt Platten in Zürich. Durch das Elend der Arbeiter politisiert, organisiert er schon während seiner Schlosserlehre bei Escher-Wyss einen Lehrlingsstreik.
In einem Anflug aus Liebeskummer und Revolutionsromantik reist er mit 21 nach Riga, um in einem Aufstand gegen den russischen Zaren «zu siegen oder zu fallen». Stattdessen zeugt er mit einer Russin einen unehelichen Sohn, Gregor, dann wird er verhaftet und eingesperrt. Als Heizer verkleidet, gelingt es dem jungen Revoluzzer jedoch, auf einem Dampfer zu fliehen. Zurück in der Schweiz, macht er sich beim Bürgertum als Streikführer und wortgewaltiger SP-Politiker verhasst – bringt er doch einen Teil der ehemals nüchternen Zürcher Sozialdemokraten auf dumme Gedanken, wie die NZZ 1917 warnt: Revolution statt Reformen, Streik statt Burgfrieden mit dem Kapital.
In der nervösen Krisenzeit während des Ersten Weltkriegs verschlägt es auch Lenin nach Zürich, wo der verfolgte Exilrusse nicht viel mehr tun kann, als Bücher zu lesen, Grütze zu löffeln und auf den Sturz des Zaren zu warten. Die aggressiven Versuche des hochmütig-besessenen Sektenpredigers, die Linke auf seinen Kurs zu bringen, sind mässig erfolgreich. Der rote Fritz dagegen, ungestüm und idealistisch, verfällt ihm. Als ihn Lenin nach dem Sturz des Zaren bittet, mit den Deutschen zu verhandeln, fühlt er sich «tief in der Pflicht».
Später, auf der Zugfahrt durch Deutschland, eröffnet er seinem Idol, «dass ich ganz einverstanden bin in Bezug auf Eure Methode und Euer Ziel». Lenin lächelt: Mit seinen Methoden – Massenhinrichtungen, Enteignungen, Deportationen – wird er Russland schon bald in einen Polizeistaat verwandeln, in dem es für andere Parteien nur einen Platz gibt, nämlich im Gefängnis. Wie weit sein Schweizer Anhänger zu derart brutaler Konsequenz neigt, ist umstritten. Lenin selber hegt Zweifel: «Platten ist ein ehrlicher Revolutionär», notiert er einmal streng, «aber er arbeitet zu wenig und sitzt zu viel beim Kartenspiel.» Überhaupt bekomme seinem Freund die schweizerische Atmosphäre schlecht: «zu kleinbürgerlich, zu gemütlich».
Was sind schon 100 000 Tote?
Zumindest auf der Rednertribüne lässt der rote Fritz jedoch keine Zweifel offen, dass auch er über Leichen gehen würde, um der Bevölkerung seine Weltrettungsphantasien aufzuzwingen. «Was bedeuten 100 000 Tote im Namen des Proletariats», ruft er 1919 am SP-Parteitag aus, «wenn damit ein jahrhundertelanges Glück der Proletarier geschaffen werden kann?» Da Platten als umgänglicher, herzlicher Zeitgenosse gilt, wirkt solche «Hate Speech» umso irritierender; sie zeugt jedenfalls von einem gerüttelten Mass an Selbstherrlichkeit und Verblendung.
Nach dem Ersten Weltkrieg gerät der populäre Agitator politisch zunehmend ins Abseits. Der von ihm angeführte Landesstreik bricht 1918 zusammen, die SP kehrt zurück zu einem pragmatischen Reformkurs, und die 1921 gegründete Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) erreicht die Massen kaum, die sie mit einem Sozialismus nach sowjetischem Vorbild beglücken will. Inzwischen KPS-Nationalrat und Gemeinderat, wettert Platten weiter gegen kapitalistische «Parasiten» und andere auszumerzende Klassenfeinde, aber für seine ehemaligen Zürcher SP-Genossen ist er nur noch ein aufgeblasener, «dummer August», der dem Gegner in die Hände spielt – zum Gaudi der bürgerlichen Presse, die das alles genüsslich ausbreitet.
«Fritz, hast Du eine Waffe?»
So fasst der «Bolschewisten-Häuptling» (NZZ) Anfang der 1920er Jahre den folgenschweren Entschluss, in das Vaterland der Werktätigen auszuwandern, wo er bereits zweimal geheiratet hat (die erste Frau stirbt, von der zweiten lässt er sich gleich wieder scheiden); denn als Mitgründer der III. Internationale und als Lenins Weggefährte geniesst er immer noch hohes Ansehen.
Doch das Abenteuer steht von Anfang an unter einem schlechten Stern. Die landwirtschaftliche Genossenschaft Namens «Solidarität», die Platten mit einer Hundertschaft von Schweizer Kommunisten gründet, macht vor allem wegen Misserfolgen und Prügeleien unter den Siedlern von sich reden. Auch politisch wird die Lage für den Zürcher Arbeiterführer zunehmend ungemütlich. Lenin ist tot, und die von ihm entfesselte Repressionsmaschinerie richtet sich seit Stalins Machtübernahme gegen alles, was irgendwie verdächtig ist, gerade auch in den eigenen Reihen.
Plattens Pech: Er sympathisiert mit den Ideen seiner alten Freunde Karl Radek und Grigori Sinowjew, die unter Stalin in Ungnade fallen. Eingeschüchtert durch einen mächtigen Parteiapparat, versucht sich der Auswanderer herauszuwinden, indem er sich demonstrativ von der Opposition distanziert und die Verbrechen der vermeintlich unfehlbaren Partei feiert. So lässt er sich 1936 dazu hergeben, die grotesken Moskauer Prozesse in der Schweizer KP-Presse zu rechtfertigen. Selbst sein gefolterter, unter antisemitischen Anspielungen verurteilter Freund Sinowjew ist für Platten nun ein Nazi-Agent, den man zu Recht an die Wand gestellt hat: Im Namen der «Reinheit und Geschlossenheit der Partei», so schreibt er, stehe er vorbehaltlos hinter den Erschiessungen.
Hat Platten all diese Lügen wirklich geglaubt? Betrachtete er sie als notwendig für den Sieg des Sozialismus? Oder wollte er bloss seine eigene Haut retten? Sicher ist: Vom romantischen Revolutionär, der er einst gewesen sein mag, bleibt in der Sowjetunion nicht viel übrig. Vielmehr zeigt sein Beispiel, wie eine totalitäre, von Lügen, Verdächtigungen und Denunziationen vergiftete Gesellschaft den Charakter pervertiert. Auch familiäre Bande spielen in diesem System keine Rolle mehr, weil die Partei alles, der Einzelne dagegen nichts ist. Seinem unehelichen Sohn Gregor schreibt Platten 1932: «Pass auf, wenn Du (von einem Auslandsaufenthalt; Anm. d. Red.) nicht zurück kehrst, werde ich Dich persönlich als Verräter der Sowjetunion erschiessen lassen.» Sein zweiter Sohn Fritz wiederum, der von kommunistischen Paten-Eltern aufgezogen wird (siehe Box), fordert 1937 in einem Brief die Erschiessung seines eigenen Vaters, sollte dieser ein «Verräter» sein.
Der Sohn wird diese Worte später schrecklich bereuen, denn genau so kommt es. Zuerst verhaftet die Geheimpolizei Plattens dritte Ehefrau Berta Zimmermann, presst ihr ein absurdes Geständnis ab und lässt sie erschiessen. Im März 1938 wird auch ihr Mann unter einem Vorwand (illegaler Waffenbesitz) verhaftet. Wahrscheinlich unter Folter bezichtigt er sich der Spionage und wird in ein Arbeitslager deportiert. Bis zuletzt glaubt er, Opfer eines Missverständnisses zu sein. Denn könnte die Partei derart im Unrecht sein?
Geschwächt von eisiger Kälte, Hunger und harter Arbeit, gelobt Platten, er wolle «zäh wie eine Katze sein» und «den Lenin'schen Ideen zum Durchbruch verhelfen». Ironie des Schicksals: Als der Schweizer am 22. April 1942 auf Anordnung von oben hingerichtet wird, ist Lenins Geburtstag. Und es war Lenin, der Platten 1918 jene Mauser-Pistole schenkte, die 1938 als Vorwand für die Verhaftung diente. «Fritz», soll der Revolutionsführer damals gesagt haben, «hast Du eine Waffe bei Dir? Es ist schon spät, und es gibt doch Banditentum hier auf den Strassen.»
Biographie Amandus Kupfer - Part 3Biografie zum 50. Todestag von Amandus Kupfer. 20. März 2002.© 2002-2017 Medical-Manager Wolfgang TimmBiographie Amandus Kupfer - Part 2Biografie zum 50. Todestag von Amandus Kupfer. 20. März 2002.© 2002-2017 Medical-Manager Wolfgang TimmBiographie Amandus Kupfer - Part 1Biografie zum 50. Todestag von Amandus Kupfer. 20. März 2002.© 2002-2017 W. Timm
Juni 1941 Letzte Ausgabe von „DgM“ 101 by Amandus Kupfer. Nürnberg.
Juni 1991 Akademische Publikation zur Selbstverantwortung by Wolfgang Timm. Heidelberg.
Rettung jedoch über die Schweiz.
Quelle DgM Nr. 51. An den großen, charaktervollen, idealen Frauennaturen sind die großen Männer und Völker emporgewachsen, an den charakterlosen, lieblosen, sittenlosen zugrunde gegangen. |
Geprägte Kindheit auf Sylt 60er Jahre in einem Reetdach-Haus von 1761 - davor Sohn Jorge aus Madrid, Sommer 2004. |
Der Sämlingvon bmh |
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