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Zwei Freunde begegnen sich wieder in London:
Michelangelo und der Venezianer Sebastiano del Piombo.
Die beiden vereint nicht zuletzt die Rivalität mit Raffael.
Empfehlenswerter Beitrag von F.A.Z. PLUS: Der eine kann die Gedanken des anderen zeichnen
Donnerstag, 20. April 2017
Feuilleton
Der eine kann die Gedanken des anderen zeichnen
LONDON, im April. Der Andrang war groß, als Papst Julius II. an Mariä Himmelfahrt 1511 den ersten Teil der neuen Deckenbemalung der Sixtinischen ...
http://plus.faz.net/evr-editions/2017-04-20/b06mGyTJ9WpryZk4oBjfXfEN?GEPC=s5
Feuilleton
Der eine kann die Gedanken des anderen zeichnen
LONDON, im April. Der Andrang war groß, als Papst Julius II. an Mariä Himmelfahrt 1511 den ersten Teil der neuen Deckenbemalung der Sixtinischen ...
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Michelangelo & Sebastiano. In der National Gallery, London; bis zum 25. Juni. Der Katalog kostet 19,95 Pfund.
LONDON, im April. Der Andrang war groß, als Papst Julius II. an Mariä Himmelfahrt 1511 den ersten Teil der neuen Deckenbemalung der Sixtinischen Kapelle freilegen ließ.
Michelangelos Ansehen und die hohen Erwartungen hätten ganz Rom angezogen, berichtet Ascanio Condivi vierzig Jahre später in seiner autorisierten Biographie.
Als Sebastiano del Piombo wenige Tage nach der Enthüllung aus Venedig kommend in Rom eintraf, dürften die Fresken das Gespräch in Kunstkreisen beherrscht haben.
Bereits in einem der ersten, von Sebastiano überlieferten römischen Werke, dem Polyphem in der Freskenausschmückung der Villa Farnesina, macht sich die Wirkung der dramatischen Plastizität von Michelangelos Figuren auf den bis dahin noch ganz in der Welt von Giorgione verankerten Venezianer bemerkbar.
Bis heute ist nicht bekannt, wann und wie sich die beiden Männer kennengelernt haben.
Doch entwickelte sich zwischen ihnen bald nach der Ankunft des 26 Jahre alten Sebastiano in Rom eine der faszinierendsten Partnerschaften der Kunstgeschichte.
Aus ihr erwuchs eine Freundschaft, die über die langen Jahre von Michelangelos Abwesenheit von Florenz hin als Fernbeziehung aufrechterhalten wurde.
Sie ist Gegenstand einer bemerkenswerten Ausstellung in der Londoner National Gallery, die nicht nur zeigt, wie Sebastiano sich unter dem Einfluss Michelangelos entfaltet hat, sondern auch welche Impulse von der Zusammenarbeit mit dem zehn Jahre jüngeren Venezianer auf den Florentiner ausgingen.
Mit ihrem hohen akademischen Anspruch stemmt sich die Schau gegen die allgemeine Tendenz zum publikumswirksamen Spektakel und bietet dennoch dank exzeptioneller Leihgaben und der schönen Inszenierung erhellende Gegenüberstellungen.
Zeichnungen und Briefe werden herangezogen und Sebastianos eigenständige Altarbilder und Porträts (darunter eine Darstellung Michelangelos, deren Echtheit in Frage gestellt worden ist) neben Gemeinschaftsprojekte gestellt, um das Ausmaß von Michelangelos Interventionen zu ermitteln.
Die überragende Präsenz des Dreigestirns Leonardo, Raffael und Michelangelo macht leicht vergessen, dass Sebastiano unter den Zeitgenossen als eine der großen Begabungen seiner Generation galt.
Davon zeugt der Aufwand, den Raffael trieb, um zu verhindern, dass sein für die Kathedrale von Narbonne bestimmtes Altarbild der „Verklärung Christi“ noch vor der geplanten, aber nie vollzogenen Entsendung nach Frankreich in Rom ausgestellt würde – eben neben Sebastianos als Pendant dazu in Auftrag gegebener „Auferweckung des Lazarus“.
Diese war, 1824 erworben, als allererstes Bild in der Sammlung der neugegründeten National Gallery und gab den Anstoß für die aktuelle Ausstellung.
Umgekehrt geht aus Michelangelos Korrespondenz hervor, dass Sebastiano alles daransetzte, damit Raffael die Tafel nicht zu sehen bekam, bevor der seinen eigenen Auftrag erfüllt hatte – aus Furcht, der Rivale könne bei ihm abgucken.
Michelangelo muss eine hohe Meinung von Sebastianos Fähigkeiten gehabt haben; denn sein Interesse an ihm war keineswegs selbstlos.
Nach der Schilderung von Vasari konnte Michelangelo nicht verkraften, dass Raffaels anmutige Malerei höheres Ansehen genoss als seine.
So beschloss er, Sebastianos Karriere zu fördern, indem er Vorzeichnungen für ihn schuf.
Durch die Kombination seiner gestalterischen Kraft mit der atmosphärischen Farbgebung des Venezianers habe Michelangelo geglaubt, den Malerfürsten Raffael überflügeln zu können, berichtet Vasari.
Andere Quellen untermauern, dass es in dem Klima des intensiven Wettbewerbs die gemeinsame Feindschaft zu Raffael war, die Michelangelo und Sebastiano zusammenschweißte.
Wie deren jeweilige unvollendete Gemälde im ersten Raum aufs trefflichste demonstrieren, verkörpern sie mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und herkunftsbedingten Vorgehensweisen jenen von Vasari zugespitzt formulierten florentinisch-venezianischen Antagonismus zwischen „disegno“, der zeichnerischen Erfassung von Form und Idee, und „colorito“, der modellierenden Farbgebung.
In Sebastianos, einst Giorgione zugeschriebener Darstellung des salomonischen Urteils aus Kingston Lacy lässt sich anhand der vielen Veränderungen im Zuge des Malverfahrens die für die venezianische Schule charakteristische Formgebung der Bildfläche durch den Farbauftrag nachvollziehen.
Dahingegen offenbaren die beiden Fragment gebliebenen Frühwerke Michelangelos in der National Gallery, die sogenannte „Manchester Madonna“ und die „Grablegung Christi“, den Prozess der systematischen Übertragung der Komposition von einer gezeichneten Vorlage auf die Bildfläche.
Der Karton, den Michelangelo laut Vasari erstellte für eine der ersten Zusammenarbeiten, die „Pietà“ aus Viterbo, ist nicht mehr erhalten.
Doch belegen die Studien gefalteter Hände auf einer Rötelzeichnung Michelangelos aus der Albertina in Wien, dass die massige Figur der betenden Madonna von ihm konzipiert wurde.
Auf der Rückseite des Blatts findet sich ein muskulöser männlicher Torso, der in direkter Verbindung steht zu einem der nackten Jünglinge auf dem Gewölbe der Sixtina.
Dessen gewundene Pose gleicht wiederum der Muttergottes in der „Pietà“, deren beunruhigend männliches Aussehen der Katalog auf neoplatonische und augustinische Gedanken über die Geschlechtlichkeit zurückführt.
Das Albertina-Blatt veranschaulicht, wie die Entwürfe für Sebastiano gewissermaßen Nebenprodukte der Gedankenprozesse bei der Erschaffung von Michelangelos eigenen Werken waren.
Wenn man die beiden im British Museum befindlichen Rötelstudien für die Figurengruppe um den sich von seinem Leichentuch befreienden Lazarus in Sebastianos monumentaler Darstellung seiner „Auferweckung“ betrachtet, ist die enge Verwandtschaft zu dem halb aufgestützten Adam aus der „Schöpfung“ in der Sixtinischen Kapelle nicht zu übersehen.
So gekonnt Sebastiano die figurenreiche, pyramidal aufgebaute Szene durch die kühnen, sich wiederholenden Farbtöne eint, so dramatisch die Gestik, so suggestiv die Poussin vorwegnehmende Landschaft ist, vermochte er doch weder dieser ehrgeizigen Komposition noch der „Pietà“ die von Michelangelo beigesteuerten Elemente mühelos einzuverleiben. Sie stechen hervor wie Montagen, als sei der Maler ehrfurchtsvoll erstarrt.
Unter den drei gesicherten Gemeinschaftsprojekten bildet die „Geißelung Christi“ der Capella Borgherini in San Pietro in Montorio eine Ausnahme.
Sie ist geringfügig verkleinert für die Ausstellung mit digitaler Technik, bis hin zur Steckdose, verblüffend genau nachgebildet worden.
In diesem in Öl ausgeführten Wandgemälde erreicht Sebastiano – bei der Umsetzung von Michelangelos in einer Kopie des Giulio Clovio erhaltenem Entwurf – eine kompositorische Harmonie, wie sie sonst nur jene Arbeiten aufweisen, die er zwar unter dem Einfluss, aber ohne die direkte Mitwirkung Michelangelos gemalt zu haben scheint, darunter die eindringliche „Kreuztragung Christi“ aus dem Prado.
Die Kongruenz der Gedanken äußert sich in der Resonanz, die Michelangelos lebenslange Beschäftigung mit der Figur des toten Christus in der Spannung zwischen Körperlichkeit und Transzendenz bei Sebastiano findet.
Dieses Thema zieht sich leitmotivisch durch die Ausstellung, angefangen mit Michelangelos frühem Gemälde der Grablegung über die marmorne „Pietà“ im Petersdom, von der ein Gipsabguss Sebastianos Beweinung aus Viterbo gegenübergestellt ist, bis hin zu den gezeichneten und gemeißelten Überlegungen zur Auferstehung, denen in großartiger Inszenierung ein ganzer Raum gewidmet ist:
Den Mittelpunkt bilden die beiden Fassungen der 1513 für eine Grabkapelle in Santa Maria Minerva bestellten Marmorskulptur des „Auferstandenen Christus“.
Michelangelo verwarf die erste Figur vor der Fertigstellung wegen einer dunklen Maserung, die quer durch das Gesicht verläuft.
Das verschollen geglaubte Werk wurde vor zwanzig Jahren in einer Dorfkirche bei Rom wiederentdeckt und steht in London, höchst aufschlussreich, neben einem Gipsabguss der 1521 in der Minerva-Kirche installierten zweiten Version.
Obgleich umstritten ist, wie weit Michelangelo diese Skulpturen selbst ausführte, geben die konzeptionellen Abweichungen zwischen den beiden Plastiken einen frappierenden Einblick in sein Streben nach der Verkörperung des antiken Vollkommenheitsideals als Ausdruck des göttlichen Ursprungs der Schönheit.
Aus Rom teilte Sebastiano dem in Florenz weilenden Freund seine Sorge über den Schüler mit, den Michelangelo mit der Aufstellung der Christus-Figur beauftragt hatte.
Überhaupt verdanken wir der langen Trennung zahlreiche Informationen über die Beziehung, die zumindest von Sebastianos Seite von großer Herzlichkeit gewesen zu sein scheint.
In seinen Briefen berichtet er Michelangelo, den er 1519 zum Paten seines Sohns ernannt hat, im Plauderton über die Intrigen in der römischen Kunstwelt, hält ihn über seine Arbeit auf dem Laufenden und drängt ihn wiederholt, sich für ihn einzusetzen bei Aufträgen und ausgebliebenen Zahlungen.
Im Gegenzug setzt sich Sebastiano in Rom für den abwesenden Künstler ein.
Der Briefwechsel gibt jedoch keinen Aufschluss über die Entzweiung nach zwanzigjähriger Freundschaft.
Vasari erzählt, dass es wegen des „Jüngsten Gerichts“ in der Sixtina zum Zerwürfnis gekommen sei.
Sebastiano habe Michelangelo überreden wollen, das Wandbild in Öl statt mit der Freskotechnik auszuführen, und habe den Putz auch dementsprechend vorbereiten lassen.
Michelangelo soll das Malen in Ölfarben als Sache von Frauen und faulen Menschen wie Sebastiano abgetan und veranlasst haben, dass der Putz wieder abtragen werde.
Vasari behauptet, Sebastiano sei nach seiner 1531 erfolgten Ernennung zum päpstlichen Siegelbewahrer, die ihm den Beinamen del Piombo eintrug, träge geworden.
Einiges, allen voran die Verdüsterung der Palette und die zunehmende Kargheit der Komposition im Spätwerk, deutet darauf hin, dass ihn die Verheerungen bei der Plünderung Roms durch das kaiserliche Söldnerheer im Frühjahr 1527 tief gezeichnet haben.
Er sei danach nicht mehr derselbe Bastiano, gesteht er Michelangelo in einem der letzten Briefe.
GINA THOMAS
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